Lenz Jacobsen beschreibt in der ZEIT treffend die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen: Ein Sieg des Nationalismus, eine Herausforderung für die EU
Seine Schlussfolgerungen:
1. Erdoğan kann nur noch mit unfairen Mitteln gewinnen
Die Zahlen sind erschütternd: Über 16.700 wurden 2022 angeklagt, weil sie Erdogan „beleidigt“ haben sollen, davon über 1000 Kinder. In den Medien gab es ein groteskes Übergewicht bei der Berichterstattung für Erdogan, dennoch hat er nur knapp gewonnen.. Er bleibt nur im Amt, weil er das Land in den vergangenen Jahren zu seinem Vorteil umgebaut hat: Medien, Justiz, Wirtschaft. Erdoğan ist ein Wahlsieger von eigenen Gnaden.
2. Die Türkei ist nicht nur Erdoğan
Man darf die Türkei nicht mit Erdogan gleichsetzen. Bei der Wahl haben sich Oppositionelle aus verschiedenen Lagern zusammengetan, die Sehnsucht nach einer andern Türkei wird bleiben.
3. Der Nationalismus hat (mal wieder) gewonnen
Mit drastischen Worten hat auch Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu gegen syrische Flüchtlinge gewettert. Aber auch der Präsident setze auf nationalistische Töne. Türkischer Nationalismus prägt das Land jenseits von links und rechts, er ist seit der Gründung des Landes vor hundert Jahren immanent. Mit dieser Wahl drängt er aus der Tiefe an die Macht.
4. Polarisierung treibt die Menschen zur Wahl
In beiden Wahlgängen war die Wahlbeteiligung hoch. Sie ist auch Resultat einer starken Polarisierung. Die vielen Wahlbeobachter sind kein Zeichen von demokratischer Stärke, sondern Zeichen des mangelnden Vertrauens und der Angst vor Manipulation.
5. Erst ein Sommerhoch, dann der Wirtschaftsabsturz
Während der Sommer dank Tourismus noch einigermaßen glimpflich ablaufen dürften, droht ein Wirtschafsabsturz. Es drohen weiter Inflation und ein Braindrain, viele jungen Menschen möchten das Land verlassen.
6. Die EU müsste sich (eigentlich) etwas Neues einfallen lassen
Bei manchen Europäern zeigte sich zynische Hoffnung: Lieber weiter mit dem gewöhnten Erdogan als die Unsicherheit durch einen Machtwechsel. Es ist aber ein Problem, dass es weiter geht wie bisher. Formal ist die Türkei weiter Beitrittskandidat, mit der echten Bedeutung hat dies nicht zu tun.
Für Erdgogan ist Europa Partner und Feindbild gleichzeitig – er wechselt zwischen nüchterner Interessenpolitik und lauten Schimpftiraden. Besonders Deutschland ist vielfalch verstrickt, sodass ein besonderes Engagement notwendig ist.
7. Autokraten lassen sich (fast) nicht abwählen
Die Wahl zeigte ein weiteres Mal, dass sich Autokraten nicht einfach abwählen lassen. Studien zeigen, dass dies nur in wenigen Fällen gelingt. Hoffnung geen die 48 Prozent für die Opposition und die Kommunalwahlen im nächsten Jahr. Es geht um mehr als einen Urnengang, es geht um Beharrlichkeit. Ein Autokrat, der ständig gegen demokratischen Widerstand kämpfen muss, wird so zumindest gebremst.