Freitag, 9. Februar 2018

Sanftes Monster Europa


Das Essay ist schon etwas älter, aber sehr lesenswert. In „Sanftes Monster Brüssel“ übt Hans Magnus Enzensberger im SPIEGEL scharfe Kritik an Europa – und schießt an manchen Stellen etwas über das Ziel hinaus.

Lange Zeit des Friedens

Er beginnt mit den positiven Punkten, z.B. die Anomalie, dass fast ein ganzes Menschenalter in Europa keinen ohne Krieg gegeben hat. Außerdem würdigt er die Annehmlichkeiten beim Grenzübertritt:
Kurzum, der Prozess der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert. Ökonomisch war er lange Zeit derart erfolgreich, dass bis heute alle möglichen und unmöglichen Beitrittskandidaten an seinen Pforten um Einlass bitten.

Absurde Begriffe und Abkürzungen

Dann geht’s los mit der Kritik und der in der Tat teilweise absurden Bezeichnungen vor. Zunächst Europäischer Rat (Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs) und Rat der Europäischen Union (Ministerrat): An erster Stelle ist dabei der Präsident des Europäischen Rats zu nennen. Es wäre fatal, wenn das Publikum ihn mit dem Präsidenten des Rats der Europäischen Union verwechseln würde.

Weiter geht es:

FAC, ECOFIN, JHA, COMP, ENVI, EXC, TTE und CAP; mit Rücksicht auf das deutsche Publikum sind auch Bezeichnungen wie JI, BeSoGeKo, WBF und BJKS im Schwange, während die Franzosen JAI, EPSCO, EJC und PAC bevorzugen. Die Koordination übernimmt der GAC, auch CAG oder RAA genannt, das ist der Rat Allgemeine Angelegenheiten, in dem die Außen- und Europaminister der Mitgliedsstaaten vertreten sind, die sich allerdings auch im RAB beziehungsweise FAC oder CRE treffen. Dort findet sich noch ein weiteres Mitglied ein, nämlich der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, der dort zwar den Vorsitz inne-, jedoch bedauerlicherweise kein Stimmrecht hat.

Aufgeklärter Beamtenapparat oder Demokratiedefizit?


Der Schriftsteller Robert Menasse hat das System Brüssel und seinen "aufgeklärten Beamtenapparat" als "josephinische Bürokratie" bezeichnet. Andere Beobachter bevorzugen andere Vergleiche. Statt auf die Zeit des aufgeklärten Absolutismus zu rekurrieren, sprechen sie von jakobinischen Traditionen oder, noch ungehaltener, von einer Nomenklatura nach sowjetischem Muster. Damit ist das Kernproblem der Union beim Namen genannt – das sogenannte "demokratische Defizit".

Ja, es gibt Probleme mit der Legitimation – ähnlich wie bei Nationalstaaten. Die Gleichsetzung mit einer Nomenklatura in der Sowjetunion ist dann doch etwas weit hergeholt. Auch die Tiraden gegen die angeblich nicht existierende Gewaltenteilung und die Schwäche kann ich nicht teilen.

Es ist richtig, dass nur die Kommission eine Gesetzgebungsinitiative hat und hier ein Unterschied zu anderen Systemen besteht. Man sollte diesen Punkt aber auch nicht überschätzen: Auch im deutschen System haben faktisch nur Gesetzgebungsinitiativen der Regierung eine Chance-

Der Hinweis auf die zurückgehende Wahlbeteiligung ist (leider) richtig, die Bedeutung des Parlaments ist aber eher gestiegen. Auch in anderen Ländern ist die Wahlbeteiligung gefallen, auch in den von vielen als Allheilmittel gepriesenen Volksabstimmungen nehmen oft nur Minderheiten teil.
Auch seine Beschwerden über die europäische Gesetzgebung, den Acquis communautaire und die Tatsache (?), dass sie noch niemand komplett gelesen hat, halte ich für fragwürdig – hat denn jemand alle Bundesgesetzte gelesen (und wenn ja, warum?). Recht gebe ich ihm in der Einschätzung, dass es falsch ist, jeglicher Kritik gleich als „uneuropäisch“ abzuwerten.

Wenig Hoffnung auf Veränderung

Enzensberger hat wenig Hoffnung auf Veränderung:
Wenig spricht bisher dafür, dass die Europäer dazu neigen, sich gegen ihre politische Enteignung zur Wehr zu setzen. Zwar fehlt es nicht an Äußerungen des Unmuts, an stiller oder offener Sabotage, aber insgesamt führt das berühmte demokratische Defizit bisher nicht zum Aufstand, sondern eher zu Teilnahmslosigkeit und Zynismus, zur Verachtung der politischen Klasse oder zur kollektiven Depression.

Die Frage ist, ob wir die Veränderungen im Sinne von Enzensberger überhaupt brauchen. Am Ende wird es dann nochmal mit historischen Vergleichen etwas schräg:
Europa hat schon ganz andere Versuche überstanden, den Kontinent zu uniformieren. Allen gemeinsam war die Hybris, und keinem von ihnen war ein dauerhafter Erfolg beschieden. Auch der gewaltlosen Version eines solchen Projekts kann man keine günstige Prognose stellen. Allen Imperien der Geschichte blühte nur eine begrenzte Halbwertzeit, bis sie an ihrer Überdehnung und an ihren inneren Widersprüchen gescheitert sind.
Trotz aller Widersprüche meinerseits – lesenswert ist der Text allemal.

Freitag, 2. Februar 2018

Was passiert, wenn Europa scheitert

Vor einiger Zeit wäre diese Frage wohl ebenso überflüssig gewesen wie der Versuch mit den möglichen Folgen für Europa zu argumentieren. Nachdem aber Forderungen nach der Abkehr vom Schengen-Abkommen und die Rückkehr zur Nationalstaaterei immer mehr Gehör bekommen, ist die Beschäftigung mit dieser Frage berechtigt und notwendig. Henrik Müller hat dies auf eindringliche Weise auf SPIEGEL ONLINE gemacht - Was passiert, wenn Europa scheitert:

Massive Wohlstandseinbußen 

Eine Folge wären massive Wohlstandseinbußen, die durch drei Effekte sichtbar werden:
  • Zerrissene Wertschöpfungsketten: Die Industrie hat Europa in den vergangenen Jahrzehnten mit einem Netz von Zulieferverbindungen durchzogen, mit dem Ziel, jeweilige Standortvorteile auszunutzen. Bei einer Implosion Europas würde ein Teil solcher Wertschöpfungsketten durchbrochen. Lieferzeiten würden länger, Transportkosten steigen, die Wettbewerbsfähigkeit leiden. Sparprogramme, Werkschließungen und Jobverluste wären die fast zwangsläufige Folge. 
  • Inflationsschock: Dass die Verbraucherpreise bislang stabil sind, liegt insbesondere am intensiven internationalen Wettbewerb. Sollten die Schlagbäume wieder fallen, geschähe das Gegenteil: Weniger Wettbewerb bringt Preissteigerungen mit sich. Die Inflationsraten dürften deshalb empfindlich anziehen. 
  • Schuldenkrisen: Am härtesten getroffen wären Volkswirtschaften, die ohnehin auf wackligem Fundament stehen. Länder, die unter chronischer Wettbewerbsschwäche leiden und hartnäckige außenwirtschaftliche Defizite verzeichnen 

Die destruktive Spirale stoppen

Sein Fazit – dem ich mich nur anschließen kann:
So gesehen befindet sich Europa in einer destruktiven Spirale. Sie zu stoppen sollte oberstes Ziel vernünftig handelnder Staatslenker sein. Es steht zu viel auf dem Spiel.