Sonntag, 25. August 2024

Schweden-Utopie: Bullerbü war gestern

In der Süddeutschen Zeitung  schreibt Alex Rühle über Schweden, um die idealisierten Vorstellungen von Schweden mit der Wirklichkeit abzugleichen.

Schweden als Projektionsfläche für Klischees

„Rote Häuschen am See, mit eigenem Segelboot. Terrasse mit Holztisch, Zimtschnecken und Kaffee. Der Wald ringsum steht still und schweiget, ab und zu ein sanft grasender Elch.“ Der Autor beschreibt zu Beginn einige Klischees über Schweden, die es bereits seit langer Zeit. Schweden muss oft  herhalten als „angenehme, freundliche, gute“ Projektionsfläche für deutsche Sehnsüchte. Bücher von Astrid Lindgren aber auch Schmonzetten im Fernsehen haben zu diesem Klischee beigetragen. Es ist herrlich unterkomplex und wahrscheinlich deshalb extrem erfolgreich.

Aktuelle Politik zeigt ein anderes Bild

Die aktuelle politische Situation hat mit diesem Bild wenig zu tun. Die Minderheitsregierung dreier konservativ-liberaler Parteien unter Ulf Kristersson ist von der Unterstützung der rechtspopulistischen Schwedendemokraten abhängig. Die als vorbildlich geltende Klimapolitik wurde ins Gegenteil verkehrt. Erneuerbare Energien werden ausgebremst, Steuern auf Benzin und Diesel gesenkt. Die Schwedendemokraten betreiben eine Trollfabrik, die das Netz mit Lügen und Hetze flutet. Die Regierung tut wenig gegen die rassistischen Diskurse und rechtsextreme Hetze.

Klischees von Neutralität und Wohlfahrtsstaat überholt

Den Nato-Beitritt bezeichnet der Autor als „überfällige realpolitische Anpassung an die Wirklichkeit“. Hier kritisiert er frühere Regierungen, die die Bündnisfreiheit als heilige Monstranz vor sich hergetragen haben. Auch das Ideal des schwedischen Wohlfahrtstaats von Gleichheit und sozialer Wohlfahrt passt nicht mehr zur Wirklichkeit. Steuern auf Erbschaften und Vermögen wurden abgeschafft. Die Zahl der Dollarmillionäre hat sich verdoppelt, das Land hat heute prozentual gesehen dreimal so viele Milliardäre wie die USA. Die Ungleichheit ist zwar noch immer geringer als in anderen Industrieländern, wächst aber schneller.

Gewalt in schwedischen Städten

Parallel zur neoliberalen Wende und dem enormen Wohlstandszuwachs hat die Gangkriminalität in Schweden Ausmaße angenommen hat, wie man sie sich in Deutschland kaum vorstellen kann: Allein 2022 starben bei Schießereien in Schweden 61 Menschen. Das Land hat zehn Millionen Einwohner, hochgerechnet auf Deutschland wären das 500 Tote. Erklärungsversuche gibt es viele: hohe Zuwanderungsraten aus patriarchalischen Gesellschaften, falsche Männlichkeitsideale, gescheiterte Integration. Erhöhte Nachfrage nach Drogen. Leichter Zugang zu Waffen. Ein Faktor ist aber auch, dass das große Gleichheitsversprechen, auf dem der schwedische Gesellschaftsvertrag offiziell bis heute fußt, längst nicht mehr eingelöst werde.

Verschärfte Bedingungen für Migranten und Asylbewerber

Die Schwedendemokraten setzten massive Verschärfungen durch: Der Erwerb der schwedischen Staatsbürgerschaft soll verschärft werden, Arbeitsmigranten außerhalb der EU müssen hohe Verdienste nachweisen. Die Maßnahmen haben scheinbar Erfolg, in diesem Jahr werde es erstmals seit den Siebzigerjahren mehr Auswanderer als Einwanderer geben.
Auch in anderen Bereichen sind Zweifel am schwedischen Erfolgsmodell angebracht. Die schwedische Bahn hat ähnlich Probleme wie die deutsche, nach Skandalen an Privatschulen wird über eine Reform des Schulsystems nachgedacht. Die Zahl der Schweden, die Antidepressiva nehmen, ist sprunghaft angestiegen.

Schweden ist kein einziges Jammertal

Der Autor betont, dass Schweden kein einziges Jammertal ist. Vieles ist wunderbar und funktioniert beeindruckend gut: Bei Geschlechtergleichheit und Innovationen liegt Schweden weit vorn. Die Landschaft ist wunderschön. Der Autor will Schweden nicht schlechtreden, sondern fordert, die eigenen Vorurteile wahrzunehmen: Bullerbü war immer schon ein fiktiver Ort. Man sollte die zehn Millionen Schweden weder in einem niedlich bunten Utopia einsperren noch auf einen anachronistischen Altar heben. Da langweilen sie sich ohnehin: Die Schweden feiern lieber, als in die Kirche zu gehen.