Hubert Wetzel beurteilt in der Süddeutschen Zeitung einen EU-Beitritt der Ukraine für „unmöglich, aber zwingend“.
Zeit der Vereinfacher, Populisten und Hetzer
Der Autor erinnert an die Debatte über die Osterweiterung der EU Anfang dieses Jahrhunderts. Das Schreckgespenst waren die polnischen Klempner, die ihren deutschen und französischen Kollegen die Arbeit wegmachen. Diese Diskussion droht erneut, wenn im Oktober über die nächste Runde von Erweiterungen gesprochen wird.
Drei Zwänge, die einander widersprechen
Im Mittelpunkt der Debatte steht die Ukraine - das mit Abstand größte und bevölkerungsreichste. An diesem Beispiel zeigen sich drei einander widersprechenden Zwänge.
Die EU muss die Ukraine aus geopolitischen Gründen aufnehmen:
Europa kann sich an seiner Ostgrenze keinen kriegszerstörten, halb besetzten, armen Dauerkonfliktherd mit 40 Millionen Einwohnern leisten. Außerdem darf Russland nicht belohnt werden.
Die Ukraine kann so, wie sie jetzt ist, nicht EU-Mitglied werden.
Neben dem Krieg leidet die Ukraine an Korruption, Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit und Oligarchen, die Politik und Wirtschaft mitbestimmen – alles Widersprüche zu den Aufnahmekriterien. Der Patriotismus hilft im Moment, könnte aber in Nationalismus und Revanchismus umschlagen – und nicht zum Friedensprojekt Europa passen.
Die Europäische Union kann, so wie sie jetzt ist, die Ukraine nicht aufnehmen.
Die EU ist ein gewaltiger Apparat, der Macht und Geld verteilt. Diese fein ausbalancierten Regeln würden sich grundlegend verändern - von der Stimmengewichtung im Rat über die Zahl der Sitze im Europaparlament bis zur Höhe der Beiträge und Subventionen, die EU-Länder bezahlen müssen oder bekommen. Das weiß in Brüssel jeder, aber die Vorstellungen dazu, wie sich dieses Problem lösen lässt, gehen weit auseinander.
Beitritt als schrittweiser Prozess
Wegeschauen ist keine Option. Der Autor schlägt einen schrittweisen Prozess als Alternative zur Vollmitgliedschaft vor: Die Integration in einigen Bereichen könnte schneller vorangehen als in anderen und auch pausieren, wenn vereinbarte Reformen stocken.
Auch die EU muss sich eine Strategie überlegen, da keine Regierung gerne Macht und Geld abgeben wird. Immerhin: „Angesichts dieses Berges an echten Problemen muss sich niemand vor ein paar ukrainischen Klempnern fürchten. Die wären, was sie damals auch nur waren - ein populistischer Popanz.“