Freitag, 5. Dezember 2025

Habermas und Europa: Ein Text für die Zukunft

Jürgen Habermas hat wieder einmal einen bedeutsamen Artikel verfasst. Kurt Kister würdigt in der Süddeutschen Zeitung den nüchternen Ton mit alarmierendem Inhalt:  und sagt: Es ist ein Text für die Zukunft. 

Der Wunsch nach einer postnationalen Konstellation 

Der Jahrhundertphilosoph Jürgen Habermas – geboren 1929 – hat den barbarischen Nationalismus erlebt. Zweimal hatte der deutsche Nationalismus Weltkriege ausgelöst, Habermas suchte nach der „postnationalen Konstellation“, die er als die Zukunft der Demokratie identifizierte. Er beschäftige sich immer wieder mit Europa als Organisationsform, das nach dem Zeitalter der völkermörderischen Nationalismen, das lauernde Nebeneinander der Nationalstaaten ersetzen sollte.
Regelmäßig hat er sich mit politischen Interventionen in die politische Debatte eingemischt. In seinem neuesten Beitrag fragt er: Kann sich die EU dem autoritären Sog der USA noch entziehen?

Machtverhältnisse verschieben sich 

China verfolgt seit einigen Jahren konsequent das Streben nach einer sinozentrentischen Weltordnung. Mit dem Seidenstraßenprojekt hatte China schon seit Längerem weiterreichende strategische und sicherheitspolitische Ziele verfolgt. Die größten Nutznießer waren Russland, Pakistan, Malaysia und Indonesien. Die Verschiebung der geopolitischen Machtverhältnisse spiegelt sich überdies nicht nur im pazifischen Raum, sondern auch in dem Aufstieg von Mittelmächten wie Brasilien, Südafrika oder Saudi-Arabien, die selbstbewusst nach größerer Unabhängigkeit streben.


Europa ist schwächer geworden 

Habermas argumentiert, dass Europa schwächer geworden ist. Bereits 2004 konstatierte er dem Westen eine Spaltung und Schwächung, nun nimmt er sich die Entwicklung der USA vor. Die Stimmungslage hat sich bereits nach dem 11. September verändert, Bush führe einen rücksichtslosen Krieg in Afghanistan und dem Irak. Seither hat sich der Mentalitätswandel radikalisiert und verstetigt. Trump greift nun die Grundlagen der Demokratie und Gewaltenteilung an und macht sich das Rechtesystem gefügig.

Die USA, Europa und die Ukraine 

Habermas fordert, dass sich die EU als „autonomer Mitspieler“ unabhängig von den USA und anderen autoritären Staaten machen muss. Am Beispiel der Ukraine zeigt er,  wie schwierig, nahezu unmöglich die Unabhängigkeit Europas von den USA ist: Ohne die USA sei, schon aus militärtechnischen Gründen, „die ukrainische Front“ nicht zu halten.
Habermas hatte im April 2022 und im Februar 2023 in zwei heftig diskutierten Aufsätzen Kanzler Scholz gelobt und Verhandlungen verlangt. Habermas wirft Trump Parteilichkeit für Moskau vor und kritisiert seinen Friedensvorschlag 

Merkel und Merz betreiben scheinheilige Europapolitik 

Die Politik Europas bietet Habermas keinen Anlass zur Hoffnung. Er wirft Merkel und Merz „scheinheilige Europapolitik vor“, da sie Europa nicht der „nationalen Verfügungsgewalt“ vorziehen. Er erkennt eine Tendenz zur „Dezentrierung oder Rückabwicklung der EU“ zu erkennen. Dies schwäche Europa und verhindere die nötige Abkoppelung von der bisherigen westlichen Führungsmacht USA.

Mehr als die Rückschau eines alten Mannes 

Kurt Kister ist voll des Lobes über den Text: Man muss sagen, und das hebt seinen Text jetzt schon weit über den europäischen Alltag hinaus: Diese melancholische, dabei sehr genaue Betrachtung ist nur einerseits Rückschau eines alten Mannes. In Wahrheit weist sie weit in die Zukunft.