Donnerstag, 19. Juli 2018

Flüchtlingspolitik - "Was es mit uns macht, was wir mit ihnen machen"

Ein toller Artikel von Bernd Ulrich, der in der ZEIT über die Flüchtlingspolitik schreibt. In „Was es mit uns macht, was wir mit ihnen machen“ stellt er 15 Thesen zur Wende in der Asylpolitik auf.

Vier Monate Willkommenskultur - seit 31 Monaten geht es in die andere Richtung

Die Stimmung ist nach der Kölner Silvesternacht gekippt, nach Ulrichs Berechnung gab es damit vom 4. September 2015 gerade mal vier Monate eine linksliberale Hegemonie, seit 31 Monaten geht es aber in die andere Richtung: Positive Nachrichten über Flüchtlinge sind unerwünscht, Gewalttaten finden besonders dann öffentliche Beachtung, wenn sie einen muslimischen Hintergrund haben.

Durch den EU-Gipfel im Juni 2018 hat die EU einen großen Schritt in Richtung Abschottung gemacht und damit den vollzogen. Ulrich fragt, ob wir überhaupt noch einen Minimalkonsens haben und wie dieser aussehen könnte.

15 Thesen zur Flüchtlingspolitik

Was also macht es mit uns, was wir mit ihnen machen? Im Folgenden habe ich die aus meiner Sicht wichtigsten Punkte aufgelistet.

1. Flüchtlinge

Eine Gesellschaft darf aufteilen zwischen legaler und illegaler Flucht. Dennoch muss gelten: Was rechtlich illegal ist, kann dennoch menschlich legitim sein. Und ist es auch meistens.

2.    Wir müssen unsere Grenzen schützen

Ulrich kritisiert die Grenzschutzübung, bei dem Menschen in Not zu Invasoren umgedeutet werden: Plötzlich sind also wir die Menschen in Not – Verdrehung der Wirklichkeit, Umwertung der Werte, Nietzsche lacht in seinem Grab.

3.    Private Seenotretter sind schuld am Rechtsruck

Dieses Argument bewegt sich am Rande des Zynismus, solange staatliche Seenotrettung gewollt lückenhaft ist. Wie so oft in der Flüchtlingsdebatte trägt diese Behauptung eine noch gefährlichere Logik in sich, weil der Rechtsruck als quasi natürliche Reaktion auf schlecht kontrollierten Zustrom dargestellt wird.

4.    Integration ist eine Bringschuld

Das stimmt so nicht, denn natürlich kann Integration nur als Geben und Nehmen gelingen, als ein Wechselspiel von Bringschuld und Holschuld.

5.    Bekämpfung der Fluchtursachen

Meistens würde es schon genügen, wenn die Europäer, auch Deutschland, aufhören würden, Fluchtursachen zu sein, etwa mit ihrer Landwirtschafts- und Fischereipolitik. Das ist im Übrigen auch leichter, als nur Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen. Fluchtursachen bekämpfen bedeutet in Wahrheit oft: Wir meinen es gut, aber die Aufgabe ist so gigantisch, dass wir an ihr jederzeit scheitern dürfen.

6.    Die finale Lösung der Flüchtlingsfrage

Die Vorstellung, dass ein Problem dieser Größenordnung final lösbar sein könnte, ist völlig irreal. Mit Blick auf Wohlstand, Freiheit und Sicherheit sind die Verhältnisse zwischen Europa und seinem südlichen Nachbarkontinent derart ungleich, dass dieses Menschheitsproblem in einer immer enger zusammenrückenden Welt allenfalls leidlich geregelt, aber absehbar nicht gelöst werden kann.

7.    An der Asylfrage entscheidet sich die Zukunft des Landes

Dieses „Argument“ wurde ja in letzter Zeit oft bemüht. Hier verweist Ulrich darauf, dass mittlerweile nur noch auf die verbliebenen Defizite verweisen wird, sogar von Regierungsparteien:
Kommen weniger Flüchtlinge, wird einfach eine größere Lupe zur Hand genommen, relevant ist nicht mehr, was geschieht, sondern was als Geschehen empfunden wird. In Österreich ist man schon weiter und schiebt beinahe jedes Problem der Gesellschaft auf die Flüchtlinge, von der Rentenpolitik bis zur Wohnungspolitik.

8.    Ohne sie wäre alles besser

Es gibt ja wenig, wofür manche Leute die Flüchtlinge (und/oder Merkel) verantwortlich machen. Auch hier findet Ulrich die passenden Worte:
Zur Beurteilung der Flüchtlingspolitik wird oft ein imaginärer migrationsloser Zustand zum Kriterium erhoben. Demzufolge ist jedes Verbrechen, das von Migranten begangen wird, eines zu viel, weil es ja ohne sie nicht passiert wäre.

9.    Sie sind undankbar

St. Martin riskiert heute, wenn er seinen Mantel teilt, die Frage: Und was ist mit dem Pferd? Oder: Warum bist du eigentlich reich und ich nicht? Zu diesem gefühlten Mangel an Dankbarkeit gesellt sich eine Urangst der Europäer: die Furcht vor Vergeltung.

10.    Die da

Ulrich fordert ein Ende der Einteilung in „Wir und „Die da“.

11. Pull-Faktoren

Ja, Europa ist attraktiv: wirtschaftlich erfolgreich, demokratisch, frei. Neben den vielen Gründen das Heimatland zu verlassen (sog. Push-Faktoren) gibt es auch Pull-Faktoren, die für Migrant/innen anziehen sind. Ulrich warnt: Wer alle Pull-Faktoren beseitigen will, muss die EU zu einem abschreckenden Gebilde machen.

12.    Merkel hat die Grenzen geöffnet

Hat Merkel die Grenzen geöffnet oder „nur“ die Grenzen offen gehalten? Ulrich dazu: „Die Flüchtlingsdebatte bezieht sich in dieser Sicht weniger auf Gegenwart oder Zukunft als auf einen vermeintlichen Sündenfall in der Vergangenheit.“

13.    Die Deutschen haben wegen ihrer Vergangenheit ein schlechtes Gewissen

Auch bei diesem Abschnitt trifft Ulrich aus meiner Sicht den Nagel auf den Kopf:
Das Argument, Deutschland sollte wegen Auschwitz großzügig Flüchtlinge aufnehmen, bringen fast nur noch jene auf, die es sodann als moralische Zumutung brüsk zurückweisen. Deutschland ist eines der reichsten Länder dieser Erde, eine erfolgreiche Exportnation und versucht, zivilisiert und wertegebunden seinen Platz in der Mitte Europas auszugestalten. Man braucht keine Sekunde Vergangenheit, um eine humane und zugleich realistische Flüchtlingspolitik zu begründen, die Zukunft reicht völlig.

14.    Wir können nicht alle aufnehmen

Müssen wir auch nicht, weil nicht alle zu uns kommen wollen und werden. Dass der Satz dennoch immer wieder gesagt wird, dient dazu, eine immer rigorosere Flüchtlingspolitik als legitime Zurück-weisung eines monströsen moralischen Anspruchs zu stilisieren.

15. Man muss kühl draufblicken

Nein, müssen wir nicht, Mitgefühl ist wichtig. „Seehofers Nonchalance bei den 69 Abschiebungen zu seinem 69. Geburtstag zeigt, wie weit dieses Nichtfühlen schon kultiviert ist.“

Selten hat mich ein Artikel so begeistert, sauber argumentiert und ein Genuss, auch wenn man natürlich nicht allen 15 Thesen zustimmen muss.