Donnerstag, 9. Juni 2022

Was der Westen über Putin (immer noch) nicht versteht

Tatiana Stanovaya ist Politologin am Carnegie Moscow Center. In einem Gastbeitrag für den SPIEGEL beschreibt sie fünf Annahmen des Westens über Putin, die ihrer Meinung nach falsch sind. Die unterschiedlichen Sichtweisen und das fehlende Verständnis, Russlands Absichten zu verstehen und zu begreifen, machten aus ihrer Sicht eine Lösung des Konflikts so schwer.

Fünf falsche Annahmen

Annahme 1: Putin weiß, dass er verlieren wird.

Putin wird die Ukraine nicht dauerhaft beherrschen können. Dies bedeutet aber nicht, dass Putins andere Ziele nicht gelingt - die Zerstörung der Ukraine, die er als ein »Anti-Russland«-Projekt sieht.
Russland könnte seine militärische Präsenz auf ukrainischem Gebiet aufrechterhalten und die ukrainische Infrastruktur weiterhin angreifen und damit ein weiteres Ziel erreichen, dass der Westen das ukrainische Territorium als Brückenkopf für antirussische geopolitische Aktivitäten nutzen kann

Annahme 2: Der Westen sollte einen Weg finden, Putin zu helfen, sein Gesicht zu wahren, und so die Risiken einer weiteren, möglicherweise nuklearen Eskalation zu verringern.

Die Autorin bezweifelt, dass der Krieg beendet würde, wenn die Ukraine einen Großteil der Forderungen akzeptieren würde.  Putin sieht sich im Kampf gegen den Westen auf ukrainischem Gebiet – die ukrainische Führung ist für ihn kein unabhängiger Akteur, sondern ein westliches Werkzeug, das neutralisiert werden muss.

Annahme 3: Putin verliert nicht nur militärisch, sondern auch innenpolitisch, und die politische Lage in Russland ist so, dass Putin bald ein Putsch drohen könnte.

Auch diese Annahme teilt die Autorin nicht. Die russische Elite sieht in Putin den einzigen Akteur, der politische Stabilität gewährleisten kann. Die Elite ist politisch ohnmächtig, verängstigt und verwundbar – einschließlich derjenigen, die in den westlichen Medien als Kriegstreiber und Falken dargestellt werden

Annahme 4: Putin hat Angst vor Anti-Kriegs-Protesten.

Auch diese Annahme sieht die Autorin genau andersrum: In Wahrheit fürchtet Putin eher die Pro-Kriegs-Proteste und muss sich mit dem Eifer vieler Russen auseinandersetzen, die jene vernichten wollen, die sie als ukrainische Nazis bezeichnen. Die öffentliche Stimmung könnte eine Eskalation begünstigen und Putin zu einer härteren und entschlosseneren Haltung veranlassen –
Wenig Hoffnung macht sie auch für die Hoffnung für die Zeit nach Putin: Was auch immer mit Putin geschieht: Die Welt wird sich mit dieser Aggressivität in der Öffentlichkeit und den antiwestlichen, antiliberalen Überzeugungen auseinandersetzen müssen, die Russland für den Westen so problematisch machen.

Annahme 5: Putin ist von seiner Entourage zutiefst enttäuscht und hat grünes Licht für die strafrechtliche Verfolgung von hochrangigen Beamten gegeben.


Die Autorin bestreitet die Gerüchte, dass Personen in Putins Umfeld verhaftet wurden. Das sei nicht Putins Stil, außerdem erfolgte die Planung durch Putin, sodass untergeordnete Stetten kaum Spielraum für Eigeninitiative haben

Auswege aus der Konfrontation

Das vermeintliche Dilemma des Westens – mehr Unterstützung für die Ukraine oder Appeasement gegenüber Putin, um ihn nicht zu reizen – hält die Autorin für grundlegend falsch.
Sie sieht vielmehr nur zwei Auswege: Entweder der Westen beginnt seine Haltung gegenüber Russland zu ändern – oder Putins Regime bricht zusammen. Putin träumt von Umwälzungen im Westen, der Westen träumt vom Sturz Putins. Letztlich wird es ein Abkommen geben müssen, sie befürchtet aber noch einen langen Krieg