Dienstag, 27. August 2019

Das Märchen von der Sogwirkung

Oliviero Angeli lehrt an der Technischen Universität Dresden und räumt in einem Beitrag für den SPIEGEL mit einigen Vorurteilen über Migration auf.

Die Sogwirkung 

Immer wieder werden politischen Ereignissen oder Akteuren unterstellt, dass ihre Entscheidungen eine Sogwirkung unter Flüchtlingen entfaltet und die Zahl der Ankömmlinge drastisch steigert: Kanzlerin Merkel mit ihrer Willkommenskultur, dem UN-Migrationspakt und zuletzt der privaten Seenotrettung.

Migration als Ergebnis mehrere Faktoren


Migration läuft aber nicht linear und berechenbar. Entscheidungen von Migranten sind Ergebnis eines Zusammenspiels von mehreren Faktoren. Die Wege sind lang und mit vielen Gefahren verbunden. Aufgeben kommt für viele nicht in Frage, egal welche Entscheidungen in den Zielländern getroffen werden.

Faktencheck zu gängigen Vorurteilen

Angeli unterzieht gängigen Vorurteilen einem Faktencheck:

These 1: Die wollen es sich bei uns bequem machen 

Migranten lassen sich insbesondere dort nieder, wo bereits Freunde und Verwandte leben. Dieser Netzwerkeffekt ist wichtiger als die Höhe der Sozialleistungen. Obwohl es auch innerhalb der EU große Unterschiede in den Sozialleistungen gibt und Menschen problemlos in ein anderes Land gehen könnte, machen das nur relativ wenig. Entscheidend sind vielmehr Arbeit und Löhne.
Wie sonst kann man erklären, dass Hunderttausende ausländische Bauarbeiter unter teilweise lebensgefährlichen Bedingungen auf Baustellen in den Golfstaaten arbeiten? Ganz sicher nicht wegen der Sozialleistungen, die sie dort nicht erhalten.

These 2: Die kommen alle, weil Merkel sie eingeladen hat 

Die Zahl an Flüchtlingen nach Deutschland ist nach Merkels Entscheidung gestiegen. Eine Analyse der Ankünfte in Griechenland zeigt aber, dass die Zahl bereits im März 2015 angestiegen ist, deutlich vor Merkels Entscheidung:
Diese Menschen hatten nicht auf eine Einladung Merkels gewartet. Sie waren aus eigenem Entschluss losgezogen.

These 3: Der UN-Migrationspakt wird eine Invasion auslösen 

Auch dem UN-Migrationspakt wurde eine Sogwirkung untersagt. Von Invasion und einem versteckten Umsiedlungsprogramm für Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge war die Rede. Passiert ist - wenig bis nichts., die Zahl ankommender Flüchtlinge ist sogar rückläufig. 

Mittwoch, 7. August 2019

Ungarn und Polen (und andere) auf Abwegen

Es ist eine Tragödie. Ausgerechnet Polen und Ungarn, deren Bürgern zu Zeiten des Kommunismus für demokratische Freiheiten gekämpft haben, wenden sich zunehmend von Demokratie und rechtsstaatlichen Prinzipien ab. Man muss genauer sagen: Die Regierungen unter Viktor Orban und Jaroslaw Kaczynski, dem mächtigen Parteichef der PIS-Partei. Die Opposition in beiden Ländern ist sehr deutlich pro Europa, die Europawahlen haben den Weg aber bestätigt.

Umbau von Staat, Justiz und Medien

Beide nutzen ihre parlamentarischen Mehrheiten, um den Staat umzubauen, die Justiz nach ihren Interessen auszurichten und im Falle von Orban auf dreiste Weise die Unabhängigkeit der Medien abzubauen. Orban garniert das Ganze noch mit unerträglichem Antisemitismus, in dem er regelmäßig über seinen früheren Förderer George Soros herfällt.

Drei Schritte vor, ein Schritt zurück

Auch die Strategien, die in den beiden Staaten anwenden, ähneln sich. Der Abbau des Rechtsstaats geht langsam. Hier eine kleine harmlos klingende Änderung, dort ein neues Gesetz unter dem Vorwand alte Seilschaften zu bekämpfen. Die Europäer haben damit immer wieder demonstriert und auch rechtliche Schritte eingelegt – aber häufig waren es drei Schritte vor, ein Schritt zurück. 
Umbau der Justiz, Ausschalten der Opposition

Die EU hat wenig Möglichkeiten… 

Würden Ungarn und Polen heute einen Beitritt beantragen und würde die EU die Beitrittskriterien ernst nehmen – sie hätten keine Chancen auf Verhandlungen, geschweige denn einen Beitritt. So hat die EU aber wenig Möglichkeiten. Vertragsverletzungsverfahren wurden bereits eingeleitet, auch Artikel 7 als mächtigstes Schwert wurde bereits gezogen. Die letzte Stufe – den Entzug des Stimmrechts – kann aber nur einstimmig erfolgen. Nachdem sich Orban und Kaczynski werden verhindern, dass es so weit kommt und sich gegenseitig retten.

…und nutzt sie auch nicht

Hinzu kommt, dass sich die EU-Staaten und auch die Parteien nicht einig sind. Bei einem Besuch im Europaparlament durfte ich das Schwarze Peter Spiel miterleben: Die Sozialdemokraten attackieren die Christdemokraten, weil die Orban in ihren Reihen dulden. Die Christdemokraten verweisen (zurecht) darauf, dass die slowakischen oder rumänischen Sozialdemokraten auch nicht viel mit Demokratie am Hut haben. An guten Tagen werden den Liberalen (auch zurecht) die Machenschaften des tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babis vorgeworfen.

Bleibt am Ende das Geld?

Wenn moralische Appelle nichts bewirken – hilft am Ende das Geld? Der Haushaltsentwurf bietet hier einen interessanten Ansatzpunkt. Wenn die Auszahlung von Geldern an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit gebunden wird, könnte dies ein Ansatzpunkt sein. Letztlich muss aber auch der Haushalt einstimmig beschlossen werden und die beiden Regierungen sitzen fester im Sattel als bevor.